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Der Senf dazu: Mittelalter spielen

Dass sich ein gesamter Freundes- und Bekanntenkreis innerhalb von kürzester Zeit in astreine
Klischee-Nerds verwandeln würde, war für mich absolut nicht absehbar. Als sie vor ein paar Jahren das LARP entdeckt haben, da stellte sich meine Welt kurz quer.
Ich, der bürgerlich im Zweitnamen Legolas heißt, damals den Gen2-Pokèdex von Johto bis nach Kanto vervollständigte und im ersten Lockdown das Überarbeiten von Wikipedia-Artikeln als neue Leidenschaft entdeckte, war plötzlich nicht mehr der Geek in der Clique. Erstmalig machte ich die Erfahrung, ein extrem schräges und einverleibendes Nischenhobby als absoluter Außenseiter zu betrachten. Ohne jegliches Verständnis für die Sache. Ich bin ganz ehrlich, retrospektiv habe ich ihnen wohl nur aus Freundschaft zugehört, wenn sie von ihren mittelalterlichen Erlebnissen berichteten. Vermutlich so, wie sie mit mir aus Liebe über den spannenden Bug reden, den ich letztens beim Programmieren behoben habe.

Natürlich habe ich aber dennoch etwas mitgenommen. LARP, das ist ein Akronym für “Live Action Role-Playing Game”, so viel habe ich damals schon kapiert. Tausende Spieler*innen treffen sich jährlich auf riesigen Festivalgeländen, welche für ein paar Tage in mittelalterliche Parallelwelten verwandelt werden. Schon Monate vorher denken sich die Teilnehmer*innen fantastische
Charaktäre aus, in deren Rolle sie später schlüpfen. Mit den Figuren geht meist eine extrem
elaborierte und oft unendlich tragische Backstory einher, für eine Weile wird das Alltags-Ich aufgelöst. Kein mundanes Dasein als Maurer, Krankenpfleger*in, Studentin, denn an deren Stelle tritt ein aufregendes, magisches Ich, losgelöst von jeglichem Historischen Materialismus, nur beschränkt von der eigenen Fantasie und den Regeln des Festivals. Realitätsflucht, wie sie im Buche steht. Quasi Dungeons and Dragons, aber in echt.

Die Wollen nur spielen

“Edler Sir Aragondor, der Krieger des Lichts und Herr der Dinge, so mögest du dein Schwert
schärfen, denn die bevorstehenden Monde werden rot von Blut!”

“Gewiss, verehrte Lady Jana von Silberwind und Sternenschweif, doch zuerst müssen wir zum
Markte hinziehen, um Zaubertränke und Nahrung zu erwerben!”

Zugegeben, der Dialog zwischen Sir Aragondor (einem Schwertkämpfer und Teilzeitgaukler aus
fernen Landen, dessen Familie erschlagen wurde) und Lady Jana von Silberwind und
Sternenschweif (der auf Einhörnern reitenden Elbenprinzessin vom Kummersberg. Ihre Familie
wurde ebenfalls tragisch erschlagen.) ist zwar erfunden und etwas verrissen, aber ich finde,
machmal darf man durchaus lügen, um die Wahrheit zu sagen.
Die Hingabe, welche die Teilnehmer*innen ihrem Spiel entgegen bringen, ist wirklich beeindruckend. Von der Verkleidung (natürlich “Gewandung” genannt), dem etwas windigen und forcierten Pathos in der Sprache, bishin zum Essen muss alles getreu der Fantasiewelt sein. Handys und dergleichen sind selbstverständlich verboten, die Illusion, sich nicht auf einem Feld in Hessen zu befinden, muss um jeden Preis aufrecht bleiben. Das Ganze ist auch ziemlich teuer: Eine solche Gewandung kostet mehrere hundert Euro, dann braucht’s noch Ausrüstungsgegenstände wie Plastikschwerter für die Krieger*innen oder Zaubertrankfläschchen für die Alchemist*innen. Von den Festivaltickets mal ganz abgesehen. Die Kostüme sind aufwendig und sehen extrem echt aus, wem konsequentes Nicht-Waschen doch etwas zu nahe an der mittelalterlichen Realität liegt, braucht mindestens eine Wechselgarnitur. Quasi doppelte Gewandung, sprich auch doppelt so teuer.
Eine vollständige Paralellwelt also, auch auf der emotionalen Ebene. Vorher abgesprochen, werden im Spiel aus den besten Freunden verbitterte Erzfeinde, sogar ganze Liebesbeziehungen sollen für die Dauer des Festivals gespielt worden sein, wurde mir gesagt. Ob hier wirklich strikt “What happens in Mythodea stays in Mythodea” gelten kann?

Alltag is halt nur so mittel, Alter.

Aber jetzt, nachdem ich mich etwas mehr mit dem Thema LARP beschäftigen musste, verstehe ich die Spieler*innen. Insgeheim möchten wir doch alle etwas Besonderes sein, stark und individuell, furchtlos und mächtig. So eigenartig es von außen wirken mag, solche Rollenspiele bieten eine einzigartige Möglichkeit, sich nochmals von Grund auf neu zu erfinden und diesen zutiefst menschlichen Wunsch auszuleben.

Meine Art der Realitätsflucht sieht ganz anders aus. Ich sitze an meinem Schreibtisch, drei Monitore vor mir. Auf einem läuft ein stummgeschaltetes Webinar, eine Vorlesung für die ich offiziell anwesend bin. Auf dem Zweiten läuft Netflix, es sind die neuen Folgen von Black Mirror welcheletzte Woche veröffentlicht wurden, jeweils etwa eine Stunde lang. Ich schaue die Staffel nun schon zum dritten Mal.
Während ich auf dem mittleren Bildschirm diesen Text verfasse, singt im Hintergrund über mein Audio-System Bill Withers und ich spiele in kurzen Denkpausen Onlineschach.

Kein Scherz.

Keine Lüge um die Wahrheit zu sagen.

Wie gut würde es mir tun, fern von jeglicher Technologie auf einem Feld im Mittelalter zu
campieren. Eine Woche nicht mehr Daniel zu sein, ein mäßig erfolgreicher Software Engineering-Student, sondern mein Dungeons and Dragons-Charakter Walther, der bisexuelle Hobbit-Barde. Die Statur hätte ich bereits und ganz ehrlich, würde mir nicht das Geld für dieses teure Vergnügen fehlen, so würde ich die Einladung meiner Freunde annehmen. Heute, nach einem mehrjährigen Gewöhnungsprozess an die Konfrontation mit diesem Hobby, ist für mich die Vorstellung eines Live Action Role-Playing Game weder befremdlich noch weird. Und hätte ich ihnen damals nicht nur aus Höflichkeit zugehört, sondern einen zweiten Blick auf diese Szene geworfen, so hätte ich diese Möglichkeit zum temporären Totalausstieg schon früher entdeckt.

Beitragsbild: Wintergrafie; Edit: Luca Chizzali

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