Schon in der Buch-Reihe Die Känguru-Chroniken des sehr erfolgreichen deutschen Kleinkünstlers Marc-Uwe Kling behauptet das namensgebende Känguru, dass „wahr“ und „unwahr“ keine sinnvollen Kategorien der Postmoderne seien, und schlägt vor, Informationen nach dem einzig wichtigen Kriterium zu ordnen: „witzig“ oder „nicht witzig“. Während diese Einteilung in der Realität vermutlich in Chaos enden würde, ist sie immerhin ein Vorschlag, wie mit dem Postfaktischen umgegangen werden kann. Und einen solchen Vorschlag haben wir bitter nötig.
Die Hoffnung, dass gesicherte Fakten und der Glaube an sie mit dem Ende von Trumps Präsidentschaft in einem triumphalen Prozessionszug in das Internet einziehen würden, hat sich nicht bewahrheitet. Im Gegenteil, die Situation hat sich unter anderem aufgrund der Übernahme Twitters durch Elon Musk und der infolge eingeführten Regeln weiter verschlechtert. So wurde die Möglichkeit, einen Account durch einen Kauf verifizieren zu lassen, wegen falschen Verifizierungen und daraus folgenden Schäden vorübergehend aufgehoben. Während diese Regel in Kraft war, war es grundsätzlich möglich, sich unabhängig von der realen Identität als jegliche Person oder Organisation bestätigen zu lassen. Diese Option ermöglichte also, sich als jemand anders auszugeben und in einer falschen, verifizierten Identität Behauptungen aufzustellen und zu verbreiten. Sie soll morgen, am 29.11., wieder in einer verbesserten Version in Kraft treten. Außerdem erhalten gebannte Accounts wieder Zugang zur Plattform.
Während Twitter aufgrund seiner User*innenanzahl eine sehr große Reichweite genießt, ist es bei weitem nicht der einzige Grund für das sinkende Vertrauen. In den letzten Jahren wurden umfangreiche Programme zu Fälschung digitalen Materials entwickelt, von der Stimmenimitation bis zur Veränderung von Gesichtern in Fotografien oder Videos. Derartige Deep-Fakes, die meist auf maschinellem Lernen basieren, machen faktisches Denken insofern obsolet, da kein Unterschied mehr zwischen Original und Fälschung erkennbar ist. Viele dieser Programme sind als Ergebnis von Forschungsarbeiten entstanden und im Internet frei zugänglich.
Vorwürfe der Manipulation durch die Medien, wie sie von einflussreichen Politiker*innen oft erhoben werden, tragen ebenfalls dazu bei, das Vertrauen zu verringern. Doch bei diesen Vorwürfen, ob sie nun einen wahren Kern haben oder nicht, fällt eindeutig auf, dass faktisch gedacht wird. Die Medien verschwiegen Tatsachen oder verfälschten sie, so das Narrativ. Es wird davon ausgegangen, dass es eine Wahrheit gibt, zu der die Medien Zugang hätten, den sie allen anderen aber verwehrten. Als Heinz-Christian Strache 2017 in einer Villa auf Ibiza alle Journalist*innen als Huren bezeichnete, warf er ihnen beispielsweise vor, sie seien käuflich und würden für die Höchstbietenden die Meinung ihrer Leser*innen und Zuseher*innen manipulieren.
Doch die Vorstellung einer Wahrheit, die die Medien vollumfassend vermitteln sollen, ist eine Illusion. Journalismus hat zwar die Aufgabe, zu informieren, doch kann er in der Praxis nie alle Informationen zur Verfügung stellen, die für eine Beurteilung der Ereignisse notwendig sind. Genauso sind alle Journalist*innen aufgrund ihrer eigenen Einstellungen, Meinungen und Prägungen immer vorbelastet. Und während Daten oft – aber bei weitem nicht immer – überprüfbar sind, so ist ihre verbale oder visuelle Darstellung immer konnotiert. Absolute Neutralität ist unmöglich.
Unter diesem Gesichtspunkt wird klar, dass Journalismus die an ihn gerichteten Anforderungen der neutralen Schilderung nicht erfüllen kann und damit zwangsläufig enttäuscht. Nichtsdestotrotz ist er als zuverlässige Informationsquelle nach wie vor enorm wichtig in unserer Gesellschaft, und dieser Zustand wird sich wahrscheinlich nicht ändern.
Folglich sollten wir uns von der Idee, die Medien seien neutral, endgültig verabschieden, ebenso von jener, sie seien unfehlbar. Ein Zeitungsartikel beispielsweise, ob online oder analog, verliert dadurch keinesfalls seine Glaubwürdigkeit, wird aber zu einer subjektiv gefärbten Perspektive, einer von vielen. Journalismus sollte verschiedene Perspektiven darstellen und sich, soweit möglich, seiner eigenen Subjektivität bewusst sein. Und wir sollten das auch. Eine Reflexion der eigenen Perspektive ergibt sich aus der Konfrontation mit anderen Blickwinkeln, und das ist die Aufgabe des Journalismus, die wir ihm zu erfüllen erlauben müssen.
Neue Kategorien im Umgang mit Berichterstattung sind notwendig, die nicht zwanghaft an wahr und unwahr gebunden sind, vor allem, wenn die Echtheit eines Dokuments (egal welchen Mediums) nicht bestätigt werden kann. Wir müssen uns darüber klar werden, dass es sich bei Berichterstattung immer zu einem gewissen Grad um Meinung handelt, welche Konsequenzen diese Meinung hat und wie wir damit umgehen. Eine solche Herangehensweise erfordert zwar deutlich mehr mentale Leistung, kann aber gerade bei widersprüchlichen Darstellungen eine Polarisierung verhindern, da wir uns nicht für eine der beiden Seiten entscheiden und diese dann nach außen vertreten müssen. Vielmehr haben wir dadurch ein umfassendes Bild verschiedener Meinungen und deren Argumente vor uns, auf deren Basis wir entscheiden können.
Die Entfernung von den Fakten hat sich bereits vollzogen, wir müssen keine Angst vor ihr haben, sondern versuchen, daraus und damit etwas Gutes zu machen. Ihre Folgen sind zweifellos gefährlich, doch sie ergeben sich aus unserem Umgang und unserer Verankerung in einer nicht mehr existenten Wahrheit, von ausgehend wir entscheiden.
Journalismus ist kein neutraler Berichterstatter, sondern ein weiterer Zeuge, der in das Geschehen involviert ist. Damit hat er wichtige Informationen, aber nie die absolute Wahrheit. Und wie wir mit diesen Informationen umgehen, ist unsere Entscheidung und unsere Verantwortung.