Heute begeben wir uns auf eine Zeitreise in das Jahr 1941 in Innsbruck. Gegen Ende diesen Jahres wurde hier, knapp vier Kilometer von dem Ort entfernt, wo die Sill in den Inn mündet, ein Auffang- und Arbeitserziehungslager eröffnet. Bis 1945 wurden dort Menschen gefangen gehalten und brutal ausgebeutet.
Kontext
1941 im Saggen. Ich lebe in dem Stadtteil von Innsbruck der bei der Hofburg beginnt und sich zwischen der Sill und dem Inn erstreckt. Ich arbeite in der Glockengießerei Grassmayer und schmelze dort Kirchenglocken für die Kriegsmaschinerie ein. 1941 ist Innsbruck von Zerstörungen durch Bomben noch verschont geblieben und ich fühle mich recht sicher hier. Die Schlagzeilen der Innsbrucker Nachrichten vom 1. November 1941 sind vom Krieg gezeichnet: „Die Engländer wittern neue Schläge im Osten“, „Die Sowjets auf der Krim in voller Flucht“ – durchwegs findet man jedoch ermunternde, positive Neuigkeiten von der Front wie: „Die Verluste des Feindes an unserer Straße sind besonders groß“ – die eigenen Leute gewinnen also. Dennoch fühle ich mich nicht wohl bei der Sache. Ich möchte nicht als Arbeiterin dem Krieg dienen, habe doch schon meinen Bruder verloren und die Lebensbedingungen werden zunehmend schlechter. Den versprochenen Sieg beginne ich anzuzweifeln.
In Tirol arbeiteten wie an vielen anderen Orten im Deutschen Reich Zwangsarbeiter*innen aus dem Osten oder Italien in den verschiedensten Bereichen – in den Tälern oft im Landwirtschafts- oder im Forstbetrieb. Schätzungen gehen von bis zu 25.000 Menschen aus dem Ausland aus, die in Tirol zur Arbeit gezwungen wurden.
Ich profitiere wie viele andere in Tirol direkt von Zwangsarbeiter*innen. Durch sie haben wir Rohstoffe und können besser mit Lebensmitteln versorgt werden. Aber auch die Kriegsmaschinerie kann erst durch diese „Hilfsarbeiter“, wie sie vom NS-Regime genannt wurden, funktionieren.
Die sogenannten „Ostarbeiter*innen“ lebten in schwierigsten Verhältnissen, ohne ausreichend Kleidung und ausgegrenzt und verachtet von der restlichen Bevölkerung. Eigentlich freie Menschen wurden zu Gefangenen und Sklav*innen gemacht, die ausgebeutet und misshandelt wurden. Die Menschen, die sich dem widersetzten, beispielsweise durch eine Flucht, wurden oft von der Polizei gefasst und in Arbeitserziehungslager gebracht. Dort wurden sie zu Arbeit gezwungen. In diesem Sinn wurde auch das Arbeitserziehungslager Reichenau errichtet.
Auch an meine Tür klopft im Sommer 1943 die Gestapo, zeigt mir den Haftbefehl und überstellt mich in das Arbeitserziehungslager Reichenau. Dieses Lager ist mit sehr wohl bekannt, nicht nur wegen seiner unmittelbaren Nähe zum bekannten Gasthof Sandwirt (den es übrigens immer noch gibt), sondern auch wegen seinem Ruf, sehr brutal zu den Insass*innen zu sein und ihnen besonders viel abzuverlangen.
Im Lager
Ich befinde mich nun also mitten im Lager. Um meinen Hals hängt eine Schnur mit einem Schild. Darauf steht meine Häftlingsnummer: 1710. Meine Haare sind kurzgeschoren und ich trage eine kratzende Mütze. Mit mir sind zwischen 400 und 600 weitere Gefangene hier, auch Frauen werden regelmäßig in dem eigentlich als Männerlager konzipierten Komplex untergebracht. Wir teilen uns 18 Holzbaracken, die Arbeitstage beginnen früh und enden spät, wann genau kann ich nicht sagen, niemand hat eine Uhr. In den Baracken ist es immer dunkel und stickig, es ist schmutzig, den Menschen geht es schlecht.
Im Auffang- und Arbeitserziehungslager Reichenau wurden zu Beginn neben Personen aus dem Osten auch hauptsächlich Personen aus Italien festgehalten, die vor den prekären Arbeitsbedingungen und der immer realeren Gefahr durch den Krieg flohen. Ab 1942 wurden dort „arbeitsunwillige“ Tiroler*inner und Juden und Jüdinnen aus ganz Mitteleuropa inhaftiert. Im Jahr 1943 wurden auch jüdische Eherpartner*innen aus „Mischehen“ in der Reichenau untergebracht und von dort aus nach Auschwitz deportiert. Im selben Jahr wurden hier auch erstmals politische Häftlinge gefangen gehalten.
Aus Erzählungen eines Freundes weiß ich: Wer einmal im Lager ist, kann sich darauf einstellen, bei zufriedenstellendem Benehmen höchstens 56 Tage dort zu verbringen. Und so gehe ich an meine Grenzen um zu Überleben. Ich werde zuerst eingesetzt, um Schwellen bei der Eisenbahn auszutauschen, dann, um einen Bunker zu bauen. Einige der anderen Arbeiter*innen sind fast noch Kinder. Die Tage sind lang und hart, Pausen gibt es nicht, außer beim Schlafen. Aber nicht nur das zehrt an uns, auch die Misshandlungen der Wächter setzten uns hart zu. Fast täglich bekomme ich mit, wie jemand geschlagen, von Hunden angefallen oder nackt stundenlang mit kaltem Wasser bespritzt wird. Mir geht es noch vergleichsweise gut, weil ich genügend anzuziehen habe. Viele andere die sie mit mir eingesperrt haben, müssen sich aus Mangel von Schuhen Stofffetzen um die Füße wickeln und leiden unter der schlimmen Kälte. Ich kann mich auch nicht mit allen meinen Mitgefangenen unterhalten, wir sprechen nicht dieselbe Sprache.
Das Lager in der Reichenau war in der Öffentlichkeit durchaus bekannt. Das hat zweierlei Gründe: Erstens wollte die Gestapo damit zur Einschüchterung beitragen und zweitens wurden Arbeiter*innen ganz offen an Stadtbetriebe „vermietet“, um Schnee und Eis zu schaufeln und die von Bomben zerstörte Stadt wieder aufzubauen. Als Häftling wurde man in der Schottergewinnung am Inn eingesetzt, beim Bau von Oberleitungen für die Buslinien und als ab dem 15. Dezember 1943 Bomben Innsbruck zerstörten auch bei der Beseitigung und Entschärfung von Blindgängern. Auch an der Errichtung von Luftschutzstollen ab 1944 waren die Zwangsarbeiter*innen aus dem Lager maßgeblich beteiligt.
Der Luftschutzstollen für St. Nikolaus und Saggen befand sich übrigens am Hohen Weg. Dieser konnte etwa 3 200 Menschen fassen. Die Menschen kamen über den Hans-Psenner-Steg in diesen Stollen, das ist die Holzbrücke zwischen Inn- und Mühlauer Brücke. |
Ich werde nach 30 Tagen wegen „guter Führung“ entlassen, vermutlich aber auch, weil ich Inländerin bin und meine Kenntnisse woanders gefragt sind. Vielen meiner Mitgefangenen geht es anders. Wenn die „Arbeitserziehung“ in den 56 Tagen nämlich nicht glückt, wird die betroffene Person in Schutzhaft genommen. So werden viele meiner Mitgefangenen in Konzentrationslager, häufig nach Dachau, überführt. Und wer öfter als einmal in das Arbeitserziehungslager gebracht wird, wird sowieso in ein Konzentrationslager überstellt.
Das Lager Reichenau war kein Lager für Massenvernichtungen. Die vergleichsweise niedrigen Kapazitäten hatten jedoch zur Folge, dass jede*r einzelne Insass*in genauestens kontrolliert und in den Blick genommen werden konnte. Die Bedingungen im Lager waren katastrophal. Die Menschen arbeiteten 12 Stunden am Tag, bekamen nicht genug zu Essen und hatten unzulängliche Kleidung. Sie wurden misshandelt und im Zuge von Bestrafungen gefoltert und auch ermordet. Wie viele Menschen insgesamt im Lager gefangen gehalten wurden, ist nicht ganz klar, geschätzt werden etwa 8 600. Offiziell starben zwischen 120 und 134 Menschen in dem NS-Lager in Innsbruck, die Dunkelziffer ist jedoch hoch.
Die Befreiung
Kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs durch die bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehrmacht am 8. Mai 1945 konnten die letzten Gefangenen am 1. und 2. Mai das Lager in der Reichenau verlassen. Kurz vorher wurden noch etwa 100 Mitglieder der Tiroler Widerstandsbewegung inhaftiert und brutal verhört.
Wenig später wurde das Lager als Gefängnis für Nazionalsozialist*innen gebraucht, später auch als Zwischenlager für Personen, die sich aufgrund des Krieges weit weg von ihrer Heimat befanden. Ebenso diente das Lager aufgrund der großen Wohnungsnot in Innsbruck auch als Notunterkunft für bis zu 1 000 Personen.
Und heute? Die Baracken wurden um 1970 abgerissen, um den Städtischen Bauhof zu errichten. Heute steht fast an derselben Stelle der Recyclinghof der Stadt und nur ein Gedenkstein sowie ein Straßenschild „KZ Reichenau“ an der Kreuzung Langer Weg und Rossaugasse erinnert an die vielen Menschen, die hier Opfer von Gewalt wurden.
Wenn du dir ein Bild von Innsbruck und Umgebung nach dem Zweiten Weltkrieg machen willst, findest du hier zwei interessante Kurzfilme: Die Befreiung von Innsbruck im Mai 1945 Bilder aus dem Lager Reichenau aus dem Juni 1945 als Zwischenlager für RückkehrerInnen Empfehlenswert ist auch der Film von Johannes Breit zum Arbeitserziehungslager. Ein weiterer Tipp: In der Digitalen Bibliothek der Universität Innsbruck kannst du Zeitungen bis ins 19. Jhd. zurück verfolgen, zum Beispiel auch die zitierten Innsbrucker Nachrichten von 1941. |
Die kursiv gekennzeichneten Stellen sind Erfindung der Autorin und dienen rein der Veranschaulichung. Die Aussagen entsprechen womöglich nicht der Wirklichkeit obwohl sie aus Zeitzeug*innenberichten rekonstruiert wurden und sollen in keinem Fall die wirklichen Erlebnisse der inhaftierten Personen relativieren.
Hauptsächlich verwendete Quellen:
Breit, Johannes: Es ist besser, nicht zuviel um sich zu schauen. Das Arbeitserziehungslager Innsbruck-Reichenau 1941-1945
Breit, Johannes: Das Gestapo-Lager Innsbruck-Reichenau: Geschichte, Aufarbeitung, Erinnerung. Tyrolia, Innsbruck/Wien 2017
Beitragsbild: © W. Giuliani