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Rezension: Thomas Fuchs. Das Gehirn -Ein Beziehungsorgan.

Unsere Welt als Simulation? Als virtuelle Illusion, die unsere Gehirne selbstständig erschaffen, entkörpert und unabhängig? 

Die kognitiven Neurowissenschaften betrachten laut dem Psychiater und Philosophen Thomas Fuchs unsere Außenwelt als eine reine Repräsentation, als ein „Kino im Kopf“ – und das Gehirn als Konstrukteur unserer erlebten Erfahrungen und verantwortlich für die perfekte und sich kontinuierlich aktualisierende Simulation unserer Welt. Sogar das „Ich“ sei nur die Projektion „meines“ Gehirns als ein inneres Bild.  

Durch fortschreitende technische Entwicklungen und Erfindungen fordert der Neurokonstruktivismus (alles, was wir erleben, sei in Wahrheit Konstruktion und Vorspiegelung) zunehmend die Zustimmung ein, die Lösung für die großen Fragen nach der Existenz und der Verantwortung des Gehirns, Bewusstseins und des Verstandes gelöst zu haben. Denken, Handeln und Fühlen wird auf bio- und neurophysiologische, sowie chemische Prozesse zurückgeführt, auf messbare Parameter und Daten. In seinem Buch „Das Gehirn – ein Beziehungsorgan“ stellt Thomas Fuchs eine Gegenthese zur verbreiteten Deutung der kognitiven Neurowissenschaften auf: Er betont die Notwendigkeit und die vergessene Bedeutung des Lebendigen und der Leibhaftigkeit, ohne die das Gehirn nicht funktionieren und seiner „Aufgabe“ nachkommen kann – „Personen haben Gehirne, sie sind sie nicht.“ (S. 294). 

Thomas Fuchs studiert Medizin, Philosophie und Wissenschaftsgeschichte. Anschließend promoviert er in den Fachrichtungen Philosophie und Medizingeschichte, bevor er mit den Habilitationen in Psychiatrie und Philosophie, sowie einer Professur an der Universität Heidelberg seinen wissenschaftlichen Werdegang (vorerst) abschließt. Zudem arbeitet Thomas Fuchs seit mehr als 20 Jahren als Oberarzt an der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg.

Anhand seiner beruflichen Lebensgeschichte wird schnell deutlich, dass Thomas Fuchs eine interdisziplinäre Einsicht in die aufgezeigte Thematik mitbringt. Bereits seine Dissertationen „Die Mechanisierung des Herzens. Harvey und Descartes“ und „Leib, Raum, Person. Entwurf einer phänomenologischen Anthropologie“ aus den Jahren 1990 und 1999 verdeutlichen Fuchs´ wissenschaftliche Forschungsschwerpunkte. Er beschäftigt sich vorrangig mit Themen der phänomenologischen Psychologie und deren Verhältnis zu den kognitiven Neurowissenschaften.  Letztere finden in dem 2008 erstmals veröffentlichten und bereits erwähnten Buch „Das Gehirn – ein Beziehungsorgan: Eine phänomenologisch-ökologische Konzeption“ besondere Bedeutung. Wenngleich nicht als leichte Lektüre im Schein der Nachttischleuchte zu empfehlen, regen die fundiert begründeten und transparent belegten Argumente Fuchs´ zum Nachdenken an. Selbst, wer sich ohne Fachwissen und Kenntnis über Descartes´, Kants oder Damasios philosophische Kernaussagen an die Lektüre heran wagt, wird schnell bemerken, wie erstaunlich nachvollziehbar Fuchs seine Gedanken für Leser und Leserinnen erörtert. In zwei Hauptteile aufgegliedert stellt der Autor vorerst seine Kritik an dem neurobiologischen Reduktionismus dar, welcher zuvor kurz umrissen wurde. 

Der ausführlichere zweite Teil diskutiert anschließend die Rolle des Gehirns als eines vermittelnden Organs zwischen Subjekt und Umwelt, wie auch in seiner Verantwortung für die notwendige Interaktion mit anderen Subjekten. Aus dieser These leitet sich die Bezeichnung des Gehirns als „Beziehungsorgan“ ab. Der Autor bindet die Leiblichkeit des Menschen und deren Bedeutung für Interaktionen, Wahrnehmung, Fühlen und Handeln in besonderer und unauflöslicher Weise an seine Überlegungen und Theorien. Fuchs unterscheidet zwischen dem Leib als unsere Weise „zur Welt zu sein“ und mit ihr zu interagieren und dem Körper, als etwas Anatomischem, physikalisch Reduzierbarem, das wir besitzen. Dadurch entsteht für ihn der Doppelaspekt von „Leib sein und Körper haben“, den er sehr differenziert ausführt. Detailliert wird diese Verknüpfung von Leib und Bewusstsein auch durch die eigene körperliche und geistige Entwicklung – durch Reifung, Wachstum und Lernen erklärt und illustriert. Zahlreiche Studienbelege und beispielhafte Schilderungen wissenschaftlicher Experimente untermauern nicht nur Fuchs´ Konzeptionen, sondern verwandeln theoretische Ideen für den Leser/die Leserin in anschauliche Gedankenspiele. Ein gesonderter Abschnitt gilt den Konsequenzen von Fuchs´ Überlegungen für psychische Erkrankungen, deren Behandlungsmöglichkeiten und unserem Verständnis für sie. 

Insgesamt ein sehr spannendes und aufschlussreiches Buch, das neue Perspektiven eröffnet. Nicht selten ertappt man sich dabei, wie eigene Erlebnisse, Situationen und Interaktionen nachträglich neu reflektiert und nachvollzogen werden. Die Fähigkeit, Perspektiven zu übernehmen und zu der eigenen Meinung reflektierend Distanz einzunehmen birgt die Möglichkeit, zu wachsen und sich weiter zu entwickeln. 

Fuchs, T. (2021). Das Gehirn-ein Beziehungsorgan: eine phänomenologisch-ökologische Konzeption. Kohlhammer Verlag.

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